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18. Dezember 2023

Zukunft geht nur ohne Bremse

Es zählt zu den großen Ironien der Geschichte, dass viele Entscheidungen, die die Axt am Staat gelegt haben, nicht nur von Konservativen kamen, sondern häufig auch eine sozialdemokratische Mittäterschaft aufweisen. Ein markantes Beispiel dafür ist die Schuldenbremse.

Seit dem Urteil aus Karlsruhe rückt die Schuldenbremse, die zuvor hauptsächlich in den Kreisen von Ökonomen und Finanzexperten diskutiert wurde, in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Doch die negativen Auswirkungen dieser deutschen Schuldenphobie waren schon viel früher sichtbar.

Die Schuldenbremse ist ein relativ neues Instrument. Die meiste Zeit ihrer Geschichte kam die Bundesrepublik ohne eine solche verbindliche Vorgabe zur Reduzierung des Haushaltsdefizits aus. Es war das neoliberale Credo „Der Markt regelt alles“, das seit den 1990er Jahren zu einer Deregulierung der Banken und der Wirtschaft führte. Die Gewinne, die über Jahre hinweg durch die Banken erwirtschaftet wurden, flossen den Reichsten der Reichen zu. Als jedoch die von der Privatwirtschaft eingegangenen Risiken während der Weltwirtschaftskrise 2008 in Verluste umschlugen, mussten der Staat einspringen. Nach Jahren der Gewinne waren durch die Privatwirtschaft eingegangene Risiken zu Verlusten geworden, welche durch staatliche Gelder aufgefangen wurden. In einer kruden Verdrehung der Realität wurden Ursache und Täter der Krise vertauscht. Statt die Banken, die sich historisch verzockt hatten zu bestrafen, legten SPD und CDU dem Staat die Ketten an. Inmitten der Weltwirtschaftskrise 2008 war die Staatsverschuldung auch in Deutschland massiv angestiegen. Die Banken- und Wirtschaftsrettung hatte Milliarden auf Kredit gekostet. Die Große Koalition aus SPD und CDU schmiedete mit ihrer Zweidrittelmehrheit im Grundgesetz eine Regelung zur Begrenzung der Neuverschuldung, um ‚für kommende Generationen keine Lasten zu schaffen‘. Die Schuldenbremse limitiert die strukturelle Neuverschuldung des Bundes auf maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Artikel 109 (3) GG besagt seither: ‚Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.‘ Nur in Notlagen darf der Bund die Schuldenbremse kurzfristig lockern. SPD-Finanzminister Peer Steinbrück trieb diese Regelung voran. Die CDU setzte für die Bundesländer sogar noch strengere Regelungen durch.

Als Reaktion auf ein Marktversagen wurde dem Staat ein Investitionsverbot auferlegt. Es war der größte finanzpolitische Fehler der Bundesrepublik.

Die Auswirkungen der Schuldenbremse sind nicht nur im Urteil des Verfassungsgericht sichtbar. Ein Blick auf das Land reicht aus um die fatale Wirkung zu beobachten. Die Investitionen in Straßen-, Schienen- und öffentliche Verkehrsmittel wurden durch die Schuldenbremse massiv begrenzt. Die Deutsche Bahn ist heute nur noch ein Schatten ihrer einstigen Größe. Viele Verkehrssysteme leiden unter mangelnder Wartung und Modernisierung. Der Ausbau der digitalen Infrastruktur, insbesondere in ländlichen Gebieten, wurde durch die Schuldenbremse stark behindert. Deutschland 2023 ist in Zeiten von KI und Automatisierung ein digitales Entwicklungsland. Der soziale Wohnungsbau, der entscheidend für die Bereitstellung bezahlbaren Wohnraums ist, kam seit 2008 nahezu zum Erliegen. Die durch die Schuldenbremse noch viel stärker belasteten Bundesländer haben seit 2008 kaum noch in Bildung investieren können. Schulen leiden unter veralteten Gebäuden und unzureichender Ausstattung. Es fehlt an Mitteln um die Bildungskatastrophe zu bekämpfen.

Die zukünftigen Generationen ‚danken‘ dafür.

Der Ökonom Sebastian Dullien, Wissenschaftlicher Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), spricht mittlerweile von einem ‚gewaltigen Reinfall‘. Selbst der ehemalige SPD-Finanzminister Steinbrück hält die Schuldenbremse mittlerweile „für nicht mehr zeitgemäß“. Er betont den extremen Investitionsbedarf in verschiedenen Bereichen und weist darauf hin, dass wir in einer anderen Zeit als 2009 leben, als die Schuldenbremse wegen der hohen deutschen Staatsverschuldung ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Selbst für den Vater der Schuldenbremse ist klar: So kann es nicht weitergehen.

Deutschland befindet sich in einer ‚Zeitenwende‘. Spätestens seit dem Ukraine-Krieg und der zeitgleich folgenden Energiekrise wurde der Politik klar, dass mit der Schuldenbremse kein Staat für die Zukunft gemacht werden kann. Aber weil die Schuldenbremse in den Köpfen der meisten Menschen immer noch als Symbol für solide Haushaltspolitik gilt, traute sich kein Politiker der Ampelkoalition oder der CDU, dies offen auszusprechen. Stattdessen wurde die Schuldenbremse seit 2020 zunehmend als Fassade missbraucht und umgangen. Mit einem Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro wurden an der Schuldenbremse vorbei riesige Investitionen für die militärische Aufrüstung getätigt. Auch in zahlreichen unionsgeführten Bundesländern wurden Sondervermögen eingerichtet, um an der – noch strengeren – Landesschuldenbremse vorbei investieren zu können. Es war aber die Ampelkoalition, die das Fass zum Überlaufen brachte und die Schuldenbremse ad absurdum führte. Damit der FDP-Finanzminister Christian Lindner seiner neoliberalen Wählerschaft nicht erklären müsste, warum er den Staat nicht abschafft, sondern mit mehr Krediten zur Umwandlung in eine klimaneutrale Wirtschaft beiträgt, wurde ein Schattenhaushalt gebildet. 60 Milliarden ungenutzte Schulden aus der Coronakrise wurden an der Schuldenbremse vorbei in den Staatshaushalt gebracht. Es war jedem in dieser Regierung bewusst, dass diese Tricksereien vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern könnten. Aber dem Finanzminister waren zwielichtige Schattenhaushalte lieber als die Ehrlichkeit mit der Bevölkerung, dass mit der Schuldenbremse die Aufgaben der Zeit nicht mehr machbar sind. Nach dem Urteil aus Karlsruhe soll jetzt rückwirkend für 2023 und eventuell 2024 die Notlage vom Bundestag beschlossen werden, um die Schuldenbremse auszusetzen. Wie es nach 2024 weitergeht, bleibt unklar. Immer noch setzen Scholz und Lindner auf halbgare Beschlüsse statt der vollen Wahrheit.

Die Zukunft erreicht man nicht, indem man auf die Bremse tritt. Es bedarf Investitionen für die kommenden Generationen.

Diese Krisen erfordern schnelle, flexible und umfassende Reaktionen, insbesondere im Bereich der erneuerbaren Energien, der Bildung und der wirtschaftlichen Unterstützung. Die Schuldenbremse jedoch schränkt die finanziellen Möglichkeiten der Regierung ein, proaktiv zu agieren und notwendige Investitionen zu tätigen, um die Auswirkungen dieser Krisen abzumildern. Von der Autoindustrie bis zur Chemieindustrie zittern nach dem Urteil in Karlsruhe nicht nur grüne Umweltaktivisten , sondern auch die kapitalistische Elite. Selbst eine von der CDU und FDP alleine geführte Regierung wird für ihre Ideen Milliarden aus dem Haushalt benötigen. Die Schuldenbremse ist kein Ampel-Problem, sie ist ein Zukunftsproblem.

2008 eingeführt, um künftige Generationen zu schützen, ist sie längst zum größten Risiko für die nächsten Generationen geworden. Deutschland muss bis 2045 klimaneutral werden; die Zukunft der deutschen Wirtschaftsnation hängt davon ab, ob wir die Mittel finden, den Umstieg auf eine klimaneutrale Wirtschaft zu schaffen. Deutschland muss in einer Zeit, in der erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg eine feindliche Atommacht seine Nachbarländer überfällt, verteidigungsfähig werden. Die kommenden Jahre werden entscheidend sein, ob die nächsten Generationen eine bewohnbare Erde, eine Demokratie und eine funktionierende Wirtschaft haben werden. Unsere Nation, unser Wohlstand und unsere Zukunft sind durch ein überholtes Konzept gefährdet.

Zukunft gestalten erfordert Mut, nicht Fesseln. Man kann nur hoffen, dass die Politik den Mut findet, die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr für dumm zu verkaufen und mit Ehrlichkeit voranzugehen. Scholz und Lindner müssen eingestehen, was sie längst wissen: Die Zukunftsbremse muss weg. Sie gehört abgeschafft, sonst schafft sich Deutschland selbst ab.


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Autor*in
Sam Fattahi

stellvertretender Vorsitzender

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